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Darf man das doch wohl noch sagen?

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BVerfG Äußerungen im Internet
Photo by Brett Jordan on Unsplash

In Zeiten, in denen die Sozialen Medien als Echoraum der Befindlichkeit dienen, ist es ein Dauerthema: noch Meinung oder schon Beleidigung?

„Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ versus „hatespeech“.

Eine eigene Norm musste sogar her: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017.

Drei Jahre später hat sich die Lage im Facebook und auf Twitter keineswegs entspannt: Der gröbste Unfug wird in grobschlächtigstem Stil verbreitet. Postings und Meldungen, die gänzlich ohne Polemik auskommen, muss man mühsam suchen.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Wort

Die Richtlinien zur Bewertung der Sollbruchstelle zwischen zulässiger und unzulässiger Meinungsäußerung entwickelt hierzulande das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in fortlaufender Rechtsprechung. Zuletzt entschied das BVerfG vier einschlägige Verfassungsbeschwerden (BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2459/19, 1 BvR 2397/19, 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18), in denen sich die Beschwerdeführer gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung richteten. Während die Kammer zwei Verfassungsbeschwerden nicht angenommen hat, hatten die anderen beiden Verfassungsbeschwerden Erfolg.

Die Urteilsbegründung stellt wesentliche verfassungsrechtliche Maßgaben für eine strafrechtliche Verurteilung wegen ehrbeeinträchtigender Äußerungen nach §§ 185 und 193 StGB heraus. Grundsatz ist: Es bedarf einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich verbrieften Interessen von einerseits Meinungsfreiheit und andererseits Persönlichkeitsschutz.

Das BVerfG definiert lediglich drei Fälle, in denen eine Abwägung nicht nötig ist: die Schmähkritik, die Formalbeleidigung und die Verletzung der Menschenwürde. In diesen Fällen überwiegt immer der Persönlichkeitsschutz und es kommt gar nicht erst zu einer Abwägung, die nähere Umstände, den Kontext, die Vorgeschichte etc. beleuchtet. Weil diese Fälle die Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber einschränken, müssen erkennende Gerichte das Vorliegen dieser Kriterien durch gehaltvolle Begründung aufweisen, mahnt das BVerfG.

Schlüsselbegriff Abwägung

Sonst muss abgewogen werden. Was wiegt in der konkreten Situation schwerer: die persönliche Ehre des Empfängers oder die Meinungsfreiheit des Äußernden? Egal, zu welchem Ergebnis das Strafgericht kommen mag, entscheidend ist die Kontextsensitivität der Bewertung, dass also die Äußerung unter Berücksichtigung ihrer situationsbezogenen Bedeutung und ihrer „emotionalen Einbettung“ beurteilt wird. Fiel sie in einer hitzigen Diskussion oder erfolgte sie Tage später schriftlich? Gab es einen konkreten Anlass oder äußerte man sich „einfach mal so“? Konnte nur ein kleiner Kreis Kenntnis nehmen oder die breite Öffentlichkeit? Fragen, die das Gericht beantworten muss.

Jenseits des konkreten Zusammenhangs ist der ehrschmälernde Gehalt der Äußerung erheblich. Handelt es sich um eine Bemerkung, die „allen Menschen gleichermaßen zukommende Achtungsansprüche“ betrifft oder richtet sie sich gegen das spezifische „soziale Ansehen“ des Betroffenen? Soll damit ein Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung geleistet (Punkt für „Meinungsfreiheit“) oder bezweckt die oder der Äußernde bloß „die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen“ (Punkt für „Persönlichkeitsschutz“)? Wer wird adressiert: ein Spitzenpolitiker (der muss grundsätzlich mehr – aber nicht alles! – aushalten) oder ein „Normalbürger“? Die Antworten verschieben das Gewicht in die eine oder andere Richtung.

Abwägung mit offenem Ausgang

Bei Schmähkritik, Formalbeleidigung und der Verletzung der Menschenwürde kann sich das Strafgericht die Arbeit der Abwägung sparen bzw. muss diese investieren, um gute Gründe zu finden, dass eben eine solche Form der ehr- bzw. würdeverletzenden Äußerung vorliegt, hinter welche die Meinungsfreiheit zurücktritt.

Liegen diese Gründe für mindestens eines der drei Ausschlusskriterien nicht vor, so heißt das wiederum nicht automatisch, dass damit die Meinungsfreiheit a priori Vorrang hätte. Das wäre ein Fehlschluss. In der Praxis des Verfahrens kann es also nicht sein, dass man mit Argumenten pro Persönlichkeitsschutz einen prinzipiellen Vorrang der Meinungsfreiheit entkräften muss, weil es diesen nicht gibt. Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz bewegen sich im Abwägungsfall auf Augenhöhe.

Eine Vorfestlegung zugunsten der Meinungsfreiheit ergebe sich, so das BVerfG, „nicht aus der Vermutung zugunsten der freien Rede, die keinen generellen Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsschutz begründet“. Umgekehrt wäre es falsch, grundsätzlich davon auszugehen, dass jede kritische Bemerkung gleich eine der drei Messlatten reißt und dann auf die näheren Umstände gar nicht mehr einzugehen wäre. Auch daran erinnert das BVerfG schließlich noch einmal sehr deutlich: „Aus ihr folgt aber, dass Meinungsäußerungen, die die Ehre anderer beeinträchtigen, im Normalfall nur nach Maßgabe einer Abwägung sanktioniert werden können“.

Es steht also in den meisten Fällen zu Prozessbeginn zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz Unentschieden. Eine Abwägung hat regelmäßig zu erfolgen, deren Entscheidung offen ist. Dass diese sorgfältig vorgenommen wird, ist Obliegenheit des Strafgerichts. Dafür die nötigen Spielregeln aufzustellen und über deren Einhaltung zu wachen, ist wiederum Aufgabe des BVerfG, der es mit den Beschlüssen und deren ausführlicher Begründung in erhellender Weise nachkam.

Der Beitrag stammt von unserem freien Autor Josef Bordat. Er ist Teil unserer Reihe “Berichte aus der Parallelwelt”. Dort werfen Autoren aus anderen Fachbereichen einen Blick auf die Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis. Die Beiträge betrachten, anders als unsere sonstigen Fachbeiträge Begebenheiten und Rechtsfälle daher auch nicht juristisch, sondern aus einem völlig anderen Blickwinkel. Aus welchem, das soll der Beurteilung der Leser überlassen bleiben. Interessant wird es, wie wir meinen, allemal.

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