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„Cancel Culture“ in der Wissenschaft

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Photo by Ousa Chea on Unsplash

Cancel Culture“ betrifft Künstler und Kulturschaffende (davon wird in einem späteren Beitrag noch die Rede sein), „Cancel Culture“ betrifft Politiker und Journalisten, „Cancel Culture“ betrifft aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zwei besonders bekannte Beispiele illustrieren die Problematik einer als „Ausschluss von diskriminierendem Handeln“ verbrämten akademischen Diskursverweigerung, die einhergeht mit existenzbedrohlichen Kampagnen, die weit über Kritik in der Sache hinausgehen und direkt auf die Person zielen. Deutlich wird dieses Ad hominem immer dann, wenn Professoren ihr Lehrstuhl an der Universität streitig gemacht wird, weil sie eine unliebsame Haltung einnehmen, die nur am Rand mit dem Gebiet zu tun haben, das sie als Hochschullehrer unterrichten.

Der „Fall“ Paul Cullen

Ein Protagonist der akademischen Spielart der „Cancel Culture“ ist seit Jahren der Münsteraner Chemieprofessors Paul Cullen, der an der medizinischen Fakultät lehrt. Zugleich ist der aus Irland stammende katholische Arzt Vorsitzender der Lebensschutzvereinigung „Ärzte für das Leben e.V.“, die sich entschieden gegen Abtreibung und Sterbehilfe positioniert. Das passt einigen an der Uni nicht. Der Allgemeine Studierendenausschuss (ASTA) und kritische Medizinstudenten wollen ihn dort nicht mehr sehen. Im Klartext: Weil er in bestimmten umstrittenen bioethischen Fragen offen eine Meinung vertritt, die nicht strafbar ist, soll er nicht mehr zu Diabetes und Blutfetten lehren. Das muss man nicht verstehen. Weil auch einige an der Universität in Münster das nicht verstehen und eine Gegenöffentlichkeit bildeten, darf Paul Cullen dort weiter unterrichten. Vorerst.

Der „Fall“ Marie-Luise Vollbrecht

Anderer Teil Deutschlands, andere Universität, gleiches Problem. Die an der altehrwürdigen Humboldt-Universität zu Berlin (HU) arbeitende Biologin Marie-Luise Vollbrecht meint, es gebe nur zwei Geschlechter. Und sie meint weiterhin, dies mit der Expertise ihres Fachgebiets begründen zu können. Die gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Kategorie „divers“, die es in jede Stellenausschreibung schafft, gibt es entsprechend dieser These biologisch nicht. Hier gibt es nur männlich oder weiblich.

Was es indes innerhalb der Biologie sehr wohl gibt, ist eine Diskussion darüber, ob die Zweigeschlechtlichkeit zur Beschreibung des Phänomens wirklich ausreicht. Hier streiten sich die eher an der Genetik orientierten Fachleute mit denen, die den Hormonhaushalt des Menschen betrachten, in dem es wohl tatsächlich ein Verteilungsspektrum bei geschlechtsrelevanten Stoffen wie Östrogen (weiblich) oder Testosteron (männlich) gibt, was die Definition von „Zwischenstufen“ ermöglicht. Auch die Bewertung uneindeutiger chromosomaler Befunde ist ein Thema, das wissenschaftlich diskutiert wird. Noch viel breiter wird die Debatte, zieht man Vertreter aus Disziplinen wie Psychologie, Soziologie oder Kulturanthropologie hinzu. Hier kann man besonders viele Meinungen erkennen, die Marie-Luise Vollbrecht widersprechen. Nur: Sie muss eben stattfinden können, diese Debatte. Und zu der zählt auch die These von der Zweigeschlechtlichkeit, die Marie-Luise Vollbrecht vertritt. Sie mit Vorwürfen, die es unterhalb des Kalibers „menschenverachtend“ nicht tun, mundtot machen zu wollen, ist kein Argument für die Gegenthese. Es ist überhaupt kein Debattenbeitrag und zudem wissenschaftsfeindlich, weil es eine These a priori aus dem Diskurs ausschließen will, die nicht nur von Frau Vollbrecht, sondern auch von anderen (Evolutions-)Biologen vertreten wird.

Eine Universität, die sich eingedenk ihrer Geschichte besonders der Forschungsfreiheit verschreiben sollte, muss sich hier hinter ihre Mitarbeiterin stellen. Das Gegenteil war – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – der Fall. Marie-Luise Vollbrecht habe, so war von der HU zu vernehmen, „gegen das Leitbild und die Werte der Uni verstoßen“. Gut zu wissen, dass dann wohl die Freiheit der Wissenschaft in der universitären Axiologie auch nicht ganz, ganz oben steht.

Mirarbeiter im Kreuzfeuer sollten Loyalität erwarten dürfen

Was beide Fälle eint, ist das Zusammenfallen von kontroverser Meinung, großer Empörung und dem Versagen von Institutionen, die mit beidem nicht umgehen können. Dabei sollten gerade Universitäten kritikfähig, ja, sogar kritikfreudig sein. Und loyal zu ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stehen, wenn diese nicht mehr „auf dem Kerbholz“ haben, als dafür bekannt zu sein, klare Antworten auf umstrittene Fragen zu geben.

Der Beitrag stammt von unserem freien Autor Josef Bordat. Er ist Teil unserer Reihe “Berichte aus der Parallelwelt”. Dort werfen Autoren aus anderen Fachbereichen einen Blick auf die Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis. Die Beiträge betrachten, anders als unsere sonstigen Fachbeiträge Begebenheiten und Rechtsfälle daher auch nicht juristisch, sondern aus einem völlig anderen Blickwinkel. Aus welchem, das soll der Beurteilung der Leser überlassen bleiben. Interessant wird es, wie wir meinen, allemal.

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