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BGH zum „Recht auf Vergessenwerden“: Alles eine Frage der Abwägung

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Photo by Benjamin Dada on Unsplash

Die weltweite Abrufbarkeit von Informationen im World Wide Web ist Fluch und Segen zugleich.

Diffamierende Suchergebnisse greifen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein. Sie können den guten Ruf einer Person oder eines Unternehmens erheblich gefährden. Unumstrittener Markführer unter den Suchmaschinen ist das US-amerikanische Unternehmen Google.

Der Bundesgerichtshof hatte sich am 27. Juli 2020 in zwei Verfahren mit dem so genannten „Recht auf Vergessenwerden“ zu beschäftigen (BGH, Urteil v. 27.07.2020, Az. VI ZR 405/18 und VI ZR 476/18). Es ging um die Frage, ob Betroffene einen Anspruch darauf haben, dass unliebsame Informationen aus dem Internet entfernt werden (sog. „Auslistungsanspruch“).

Die Zivilrichter betonten, dass es auf eine gleichberechtigte Abwägung aller betroffenen Interessen im Einzelfall ankomme. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht habe nicht grundsätzlich Vorrang. Das Urteil führte darüber hinaus zu einer wichtigen Rechtsprechungsänderung. Zwei wichtige Fragen legte der BGH dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vor.

Kläger begehrte von Google Löschung eines nachteiligen Suchergebnisses

Im Verfahren VI ZR 405/18 klagte ein Geschäftsführer eines Regionalverbandes einer Wohlfahrtsorganisation. Er wollte erreichen, dass Google bestimmte Presseartikel auslistet, die bei einer Suche nach seinem Namen in der Suchmaschine erschienen. In diesen wurde berichtet, dass der Regionalverband ein finanzielles Defizit von knapp einer Million Euro habe und dass der Kläger sich kurz zuvor krankgemeldet habe. In den Vorinstanzen blieb der Kläger erfolglos (LG Frankfurt am Main, Urteil v. 26.10.2017, Az. 2-03 O 190/16; OLG Frankfurt am Main, Urteil v. 06.09.2018, Az. 16 U 193/17).

Gleichberechtigte Abwägung aller Interessen im Einzelfall

Die Anspruchsgrundlage für den Auslistungsanspruch bildete § 17 Abs. 1 DSGVO. Diese Norm kodifiziert das „Recht auf Vergessenwerden“.

Der BGH nahm eine umfassende Grundrechtsabwägung vor. Damit folgte er der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil v. 13.05.2013, Az. C‑131/12 – Google Spain SL) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss v. 06.11. 2019, Az. BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II). Grundlage der Abwägung seien alle Umstände des Einzelfalls. Der Privatsphäre des Klägers (Art. 7, 8 GRCh) standen die Grundrechte des Suchmaschinenbetreibers (Art. 16 GRCh), das Informationsinteresse der Nutzer und Öffentlichkeit und die Meinungs– bzw. Pressefreiheit der Anbieter der Inhalte (Art. 11 GRCh) gegenüber.

Es darf nach Auffassung des BGH nicht vermutet werden, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Rahmen der Abwägung Vorrang genießt. Damit schlossen sich die Richter der Ansicht des BVerfG in oben zitierter Entscheidung (Recht auf Vergessen II) an. Der EuGH hatte dies in seiner berühmten „Google Spain-Entscheidung“ anders gesehen.

Wichtige Rechtsprechungsänderung

Aus dem Gebot der gleichberechtigten Abwägung folge zudem, dass der Verantwortliche einer Suchmaschine nicht erst dann tätig werden müsse, wenn er von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung des Betroffenen Kenntnis erlange. An seiner vorherigen Rechtsprechung, die vor dem Inkrafttreten der DSGVO galt (BGH, Urteil v. 27.02.2018, Az. VI ZR 489/16), hält der BGH ausdrücklich nicht mehr fest. Diese wichtige Rechtsprechungsänderung hat zur Folge, dass die Anforderungen an die Geltendmachung eines Auslistungsanspruchs deutlich gesunken sind.

Kläger verliert auch vor dem BGH

Der Kläger unterlag trotz des Zeitablaufs auch vor dem BGH. Der Rechtmäßigkeit der verlinkten Berichterstattung maßen die Richter entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Auf die Vorschriften des nationalen deutschen Rechts könne der Kläger seinen Anspruch nicht stützen. Das unionsweit abschließend vereinheitlichte Datenschutzrecht genieße Anwendungsvorrang.

BGH legt EuGH zwei wichtige Fragen zur Vorabentscheidung vor

Im Verfahren VI ZR 476/18 klagte ein Ehepaar gegen kritische Berichte auf der Webseite eines US-amerikanischen Unternehmens über die Anlagemodelle ihrer Gesellschaften. Auf einem der Artikel waren Fotos der Kläger zu sehen, die auf Google als Vorschaubilder („thumbnails“) angezeigt wurden. Im Raum stand der Vorwurf der Erpressung. Auch hier sollte Google tätig werden und die beanstandeten Internetlinks und thumbnails auslisten.

Der Fall wies die Besonderheit auf, dass die Rechtmäßigkeit der Berichterstattung von ihrem Wahrheitsgehalt abhing, dieser aber streitig war. Der BGH legte dem EuGH die Frage vor, ob bei der Abwägung auch darauf abzustellen ist, ob der Betroffene in zumutbarer Weise – z.B. durch eine einstweilige Verfügung – die Wahrheit vorläufig klären lassen kann. Darüber hinaus muss der EuGH klären, wie mit thumbnails umzugehen ist, deren konkreter Kontext nicht ersichtlich ist.

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