Mythos „Zu-eigen-Machen“: Warum Plattformen und Sender für Äußerungen Dritter haften – trotz Distanzierung
Im Presserecht hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Unterlassungsansprüche gegen Medien oder Plattformbetreiber nur dann durchsetzbar seien, wenn sich diese fremde Aussagen „zu eigen machen“.
Gemeint ist damit, dass eine Äußerung als eigene übernommen oder kommentarlos in einer Weise wiedergegeben wird, dass sich der Verbreiter damit identifiziert.
Diese Annahme ist in Teilen korrekt – aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Sie stammt aus einer Rechtsprechungstradition, die ihre Wurzeln in den analogen Kommunikationsverhältnissen des 20. Jahrhunderts hat. Spätestens im digitalen Zeitalter ist dieser Grundsatz jedoch erheblich zu relativieren.
Verantwortung für andauernde Verbreitung
Das Landgericht Hamburg hat mit Beschluss vom 02.04.2025 (Az. 324 O 134/25, hier als PDF abrufbar) erneut klargestellt, dass sich Medien nicht hinter der „Fremdheit“ einer Äußerung verstecken können, wenn sie deren weitere Verbreitung bewusst organisieren.
Die Entscheidung betrifft eine Talkshow-Sendung, in der eine unzutreffende Tatsachenbehauptung über Sahra Wagenknecht geäußert wurde. Der NDR hielt diese Sendung auch nach Kenntnis der Unrichtigkeit weiter in seiner Mediathek abrufbar.
Das Gericht stellte zutreffend fest: Zwar könne für die Live-Ausstrahlung eine eingeschränkte Haftung gelten – nicht jedoch für die spätere, dauerhafte Verfügbarkeit im Archiv oder in der Mediathek. Hier sei der Verbreiter nicht mehr bloßer technischer Übermittler, sondern handle eigenverantwortlich.
Das „Zu-eigen-Machen“ – ein Relikt vergangener Medienlogik?
Die ursprünglichen Leitentscheidungen, die den Begriff des „Zu-eigen-Machens“ prägten, gehen zurück auf Urteile des BGH aus den 1960er Jahren (vgl. BGH, Urt. v. 29.10.1968 – VI ZR 180/66, GRUR 1969, 147, 150; Urt. v. 20.06.1969 – VI ZR 234/67). Damals ging es um Print- und Fernsehpublikationen und ihre Verantwortung für zitierte Inhalte.
Der BGH differenzierte dabei zwischen bloßer Dokumentation auf einem „Markt der Meinungen“ – etwa in einer kommentierten Übersicht kontroverser Standpunkte – und dem bewussten Verbreiten ohne ausreichende Distanzierung.
Keine Haftung könne demnach ausnahmsweise bestehen,
wenn das Verbreiten nicht schlicht Teil einer Dokumentation des Meinungsstandes ist, in welcher – gleichsam wie auf einem Markt der Meinungen – Äußerungen und Stellungnahmen verschiedener Seiten zusammen- und gegenübergestellt werden
(BGH, VI ZR 234/67, aaO.)
Oder aber, wenn sich der Verbreiter klar und ernsthaft von der Äußerung distanziert.
Digitale Plattformen und Archivinhalte: Rechtlich kein rechtsfreier Raum
Diese Ausnahmen greifen jedoch immer seltener. Der typische Fall der Mediathek, Social-Media-Plattform oder des kommentarlosen Weiterverbreitens ohne Distanzierung stellt sich regelmäßig nicht als bloße „Meinungsdokumentation“ dar. Vielmehr wird die Äußerung durch erneute Kontextualisierung, Sichtbarmachung und technische Distribution zu einem fortwirkenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen.
Ein aktuelles Beispiel: Wer einen Beitrag mit einem KI-generierten Deepfake-Interview kommentarlos teilt, ohne Distanzierung oder Kontextualisierung, wird regelmäßig nicht in den Schutzbereich des „Meinungsmarktes“ fallen, sondern haftet als Störer – zumindest zivilrechtlich auf Unterlassung.
Fazit: Verantwortung durch Verfügbarkeit
Plattformen, Medien und Verbreitende stehen heute mehr denn je in der Pflicht. Wer Inhalte öffentlich zugänglich hält, haftet für deren Rechtmäßigkeit – unabhängig davon, wer sie ursprünglich geäußert hat. Das Argument des fehlenden „Zu-eigen-Machens“ greift nur ausnahmsweise – etwa im Rahmen eines objektiv neutralen Meinungsspiegels oder einer spontanen Äußerung Dritter und klarer Distanzierung.
Für Betroffene bedeutet das: Der Anspruch auf Unterlassung ist nicht davon abhängig, ob sich der Verbreiter mit der Aussage identifiziert – sondern davon, ob er sie technisch verfügbar hält, verbreitet oder sichtbar macht.
Und damit ist das „Zu-eigen-Machen“ im Zeitalter des Internet oft irrelevant.