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Bundesverfassungsgericht: Auch ein Kapitalverbrecher hat ein Recht auf Vergessenwerden

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Recht auf Vergessen
Photo by Elijah O’Donnell on Unsplash

Unzutreffend ist die Beurteilung des BGH, dass Spiegel Online seine Presseberichte zu einem über 30 Jahre zurückliegenden Mord in seinem Online-Archiv unverändert zum Abruf bereithalten darf.

Die Gründe: Das Magazin identifiziert den Täter und ermöglicht es jedem, nach einer einfachen Google-Suche alles über die damalige Straftat zu erfahren. So nimmt es dem Täter sein Recht auf Neuanfang in der Freiheit.

Das entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss v. 6.11.2019, Az. 1 BvR 16/13) und gab dem Recht auf Vergessenwerden im Internet gegenüber der Pressefreiheit den Vorrang.

Verurteilung wegen Mordes im Jahr 1982

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes und versuchten Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Damals berichtete Der Spiegel von dem Fall unter namentlicher Bekanntmachung des Täters. Dies war auch seinerzeit rechtens: denn die Öffentlichkeit hatte ein hohes Informationsinteresse an der Tat und ihren rechtlichen Konsequenzen.

Dies ist aber nach all den Jahren nicht mehr der Fall. Der Täter hat mittlerweile seine Strafe verbüßt und ist seit 2002 auf freiem Fuß. Sein aktuelles soziales Umfeld weiß nicht von der lange zurückliegenden Tat. Dennoch ist es jedem möglich, durch die Eingabe des Täternamens von seiner Vergangenheit zu erfahren. Dazu ist gerade keine mit Blick auf die Tat gezielte Internetsuche erforderlich. So erzielen die Presseberichte eine ganz erhebliche Breitenwirkung und greifen mit hoher Intensität in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers ein.

Mit dieser Argumentation hob das BVerfG das Urteil der BGH-Richter vom 13. November 2012 (BGH, Urteil v. 13.11.2012, Az.: VI ZR 330/11) auf, die der Meinungs– und Pressefreiheit gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen den Vorrang einräumten. Wahre Tatsachenbehauptungen müssen in der Regel auch dann hingenommen werden, wenn sie für den Betroffenen nachteilig sind. Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn mit der identifizierenden Berichterstattung eine besondere Stigmatisierung des Betroffenen einhergehe.

Der BGH war der Ansicht, dass vorliegend dem Täter keine solche Stigmatisierung drohe. Denn „das Auffinden der Berichte setze eine gezielte Suche voraus, da sie nur auf einer als passive Darstellungsplattform gestalteten Website verfügbar seien.“ Ursprünglich hatte der Beschwerdeführer mit Erfolg einen Unterlassungsanspruch aus §§ 823, 1004 BGB analog, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht. Dagegen zog die Beklagte Spiegel Online GmbH bis zum BGH.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist materiellrechtlich in zweierlei Hinsicht von Interesse

Einerseits traf das BVerfG eine klare Aussage darüber, welches Recht anwendbar ist, wenn der Fall sich im Bereich des Unionsrechts abspielt. Zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung galt die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (DSRL 95/46/EG). Diese verpflichtete die Mitgliedstaaten zur Schonung der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung derer Daten. Gleichzeitig ermöglichte sie es den Staaten auch, bei der Verfolgung u.a. journalistischer Zwecke Ausnahmen von diesem Grundsatz vorzusehen.

Seit dem 25. Mai 2018 ist die Richtlinie durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ersetzt. In ihrem Art. 17 enthält die DSGVO nunmehr ein Recht auf Löschung, das in Klammern auch als „Recht auf Vergessenwerden“ überschrieben ist. Auch sie erlaubt es den Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung des Medienprivilegs Ausnahmeregelungen zu treffen (vgl. Art. 85 DSGVO).

Insoweit bewegte sich der Fall im Bereich der Durchführung von Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Grundrechtecharta (GRCh). Hiernach müssen die Mitgliedstaaten – und deren Gerichte – die Unionsgrundrechte anwenden.

Das BVerfG stellte klar, dass es trotzdem die Grundrechte des Grundgesetzes als alleinigen Beurteilungsmaßstab hatte. Das Bundesverfassungsgericht prüfe innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liege, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Dies war vorliegend der Fall, da die o.g. Richtlinien den Mitgliedstaaten breite Gestaltungsspielräume gewährleisten.

Andererseits betonte das BVerfG, dass das Bereithalten personenbezogener Informationen im Rahmen des öffentlichen Kommunikationsprozesses zeitlichen Grenzen unterliegt. Selbst die hohe zeitgeschichtliche Bedeutung der Presseberichte verpflichtet den Betroffenen nicht zur ewigen Konfrontation mit seinem Fehlverhalten. Vielmehr gewinnt sein Interesse an Resozialisierung mit zeitlicher Distanz zur Tat zunehmend an Bedeutung.

Fazit

Das heißt nach dem BVerfG nicht, dass die Online-Medien alle personenbezogenen Presseberichte entfernen müssen, sondern dass sie nach Möglichkeit die Auffindbarkeit alter Berichte durch Suchmaschinen verhindern müssen. Festzuhalten gilt noch, dass der Betroffene hier keine vollständige Tilgung der Berichterstattung oder gar der Zeitgeschichte begehrte, sondern das Verbot der Nennung seines Familiennamens.

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