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BVerfG stellt Verstoß gegen Waffengleichheit in Presseverfahren fest

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Klaus Eppele – stock.adobe.com

In dem Verfahren ging es um eine einstweilige Verfügung, die das Landgericht Berlin wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung erlassen hatte.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass beim Erlass einer einstweiligen Verfügung eine Anhörung nur im Ausnahmefall unterbleiben darf. Ansonsten liegt ein Verstoß gegen das Recht auf prozessuale Waffengleichheit vor.

Das Verfahren vor dem Verfassungsgericht steht im Zusammenhang mit Verhandlungen der Nachkommen des letzten deutschen Kaisers mit Bund und Ländern über das Bestehen von Entschädigungs- und Rückgabeansprüchen.

Die Beschwerdeführerin, der Landesverband B. der Partei D., vertrat die Ansicht, dass die Landesregierung des Landes B. den Mitgliedern des sogenannten H. kein Entgegenkommen zeigen solle. Die Beschwerdeführerin startete im Sommer 2019 eine Volksinitiative und sammelte Unterschriften. Auf den Unterschriftslisten wurde behauptet, das H. beanspruche in dauerhaftes, unentgeltliches und grundbuchrechtlich zu sicherndes Wohnungsrecht für Familienmitglieder in einer weltbekannten Stadt.

Unterschriftsbogen abgemahnt

Der Antragsteller ließ die Beschwerdeführerin für die Äußerung zum Wohnrecht daraufhin abmahnen und verlangte die Abgabe einer Unterlassungserklärung, welche die Beschwerdeführerin abgab.

Der Antragsteller beantragte beim Landgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Verfügung, um zu untersagen, die seiner Ansicht nach unwahre Tatsachenbehauptung zu verbreiten. Mit Beschluss von Ende Januar erließ das Landgericht Berlin wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung antragsgemäß die einstweilige Verfügung. Das Landgericht war der Ansicht, es handele sich bei der angegriffenen Äußerung um eine unwahre Tatsachenbehauptung. Der unbefangene Leser entnehme dem Text der Unterschriftenliste, dass das H. aktuell die Forderung nach einem Wohnrecht geltend mache. Gegen diese legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein.

Im Februar erhob die Beschwerdeführerin außerdem Verfassungsbeschwerde und beantragte den Erlass einer einstweiligen Verfügung, um am 8. Februar 2021 fristgerecht nach § 6 Abs. 1, Abs. 1a des Gesetzes über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid des Landes gesammelte Unterschriften ohne Verstoß gegen die gerichtliche Entscheidung vorlegen zu können.

Verzicht auf Anhörung Ausnahmefall

Die zweite Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entscheid per Beschluss (BVerfG, Beschluss v. 06.02.2021, Az. 1 BvR 249/21), dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig und begründet ist. Der Erlass der einstweiligen Verfügung durch das Landgericht ohne Anhörung verletze die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit, so das Bundesverfassungsgericht. Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliege und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden könne, hätten die Fachgerichte einen „weiten Wertungsrahmen“. Entbehrlich sei eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung sei, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde.

Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtige ein Gericht jedoch nicht dazu, „die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten“. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, „wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern“.

Der Beschluss des LG Berlin verletze die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Durch Erlass der einstweiligen Verfügung ohne jegliche Einbeziehung der Beschwerdeführerin sei keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber der Verfahrensgegnerin gewährleistet gewesen.

Voraussetzung: Zügige Verfahrensführung

Das Gericht verweist in seinem Beschluss darauf, dass Abmahnung und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung textlich nicht deckungsgleich seien. Zwar habe die Beschwerdeführerin eine Schutzschrift hinterlegt, doch habe sie sich „dabei nur an der sehr knapp gefassten Abmahnung des Antragstellers orientieren“ können. Eine Stellungnahme zu den weitergehenden Ausführungen des Antragstellers in der Antragsschrift sei der Beschwerdeführerin nicht möglich gewesen.

Die Annahme einer Dringlichkeit setze sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechend zügige Verfahrensführung voraus. Der Antragsteller habe seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mehr als drei Wochen nach Ablauf der der Beschwerdeführerin gesetzten Frist zur Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung eingereicht und das LG Berlin dann nach Eingang zwölf Tage bis zur Bescheidung benötigt.

Mitteilung aus Karlsruhe

Die Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat das LG Berlin bereits in drei jüngeren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zentrale Bedeutung für ein rechtsstaatliches und faires gerichtliches Verfahren besitzt (BVerfG, Beschluss v. 03.06.2020, Az. 1 BvR 1246/20, mit Verweis auf den Beschluss v. 30.09.2018, Az.: 1 BvR 1783/17; v. 17.06.2020, Az.: 1 BvR 1380/20, v. 22.12.2020, Az. 1 BvR 2740/20). Auch im neuen Fall, so der Beschluss, eine Einbeziehung der Beschwerdeführerin vor Erlass der Verfügung offensichtlich geboten gewesen und es habe hinreichend Zeit dafür bestanden. Es sei unzulässig, wegen einer befürchteten Verzögerung im Falle einer Anhörung oder wegen einer erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zu einer mündlichen Verhandlung mit einem „einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten“.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in jüngerer Zeit mehrfach mit der prozessualen Waffengleichheit in Sachen Anhörung in äußerungsrechtlichen Verfahren geäußert (vgl. BVerfG, Beschlüsse v. 30.09.2018, Az. BvR 1783/17, 1 BvR 2421/17, 03.06.2020, Az. 1 BvR 1246/20, 17.06.2020, Az. 1 BvR 1380/20, 22.12.2020, Az. 1 BvR 2740/20, 11.01.2021, Az. 1 BvR 2681/20). Spannend bleibt, ob die Gerichte, insbesondere das LG Berlin, die Vorgaben zukünftig beachten werden oder ob weitere derartige Entscheidungen aus Karlsruhe folgen.

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