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Bei Aufruf Mord? – Bundesverfassungsgericht stärkt Recht auf Vergessenwerden

Recht auf Vergessen
Photo by Benjamin Dada on Unsplash

Ein Grundsatz unseres Rechtssystems ist, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat.

Wer nach verbüßter Strafe zurückkehrt in die Gesellschaft, sollte dort möglichst vorurteilsfrei wiederaufgenommen werden.

Diese Willkommenskultur zählt zu den Grundfesten einer zivilisatorischer Ordnung, die den Rechtsfrieden der ewigen Fehde vorzieht. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt und – nicht ganz ohne den Einfluss der christlichen Vorstellung von Vergebung – dieses Prinzip der Rehabilitation in unser Rechtssystem eingebracht.

Das Netz vergisst nicht, jedenfalls nicht von selbst

Nun gibt es heute zwar weder Talion noch Fehde, stattdessen aber das Internet. Das vergisst noch weniger als eine sizilianische Familie oder ein germanischer Stamm. Jede Jugendsünde wird da vom Suchmaschinen auf den Monitor gespült. Und wenn die Sünde ein Kapitalverbrechen war, dann besteht nur wenig Hoffnung, jemals eine virtuelle Reputation aufbauen zu können, die einem entlassenen Straftäter den Neuanfang in Privat- und Berufsleben ermöglicht.

So der Fall eines Beschwerdeführers beim BVerfG, der gegen einen Suchmaschinenbetreiber vorging, weil dieser Pressemeldungen von 1982 hervorholte, die den Beschwerdeführer mit jedem Aufruf zu seinem Namen erneut ins Zwielicht rückten. Dabei geht es nicht um üble Nachrede oder ähnliches – die schlechte Presse hat gute Grunde: Der Beschwerdeführer hatte 1981 einen Mord begangen und war 1982 zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden. 2002 erfolgte die Entlassung und mittlerweile lebt er wieder unter uns und versucht eine Neuorientierung. Und genau diese wird durch die gnadenlose Suchmaschine empfindlich gestört.

Freiheit umfasst Chance zum Neubeginn

Dazu stellt das BVerfG fest, eine Person müsse davor geschützt werden, dass ihr frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt öffentlich vorgehalten werden, denn „erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte“ eröffne dem Einzelnen „die Chance zum Neubeginn in Freiheit“, und damit genau das, was Kern der Resozialisierung nach verbüßter Strafe ist. Zur „Zeitlichkeit der Freiheit“ gehöre, so das BVerfG, „die Möglichkeit des Vergessens“. Das sei Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

Zur Freiheit gehöre es nämlich auch, „persönliche Überzeugungen und das eigene Verhalten im Austausch mit Dritten auf der Basis gesellschaftlicher Kommunikation zu bilden, fortzuentwickeln und zu verändern“, wofür es eines rechtlichen Rahmens bedürfe, „der es ermöglicht, von seiner Freiheit uneingeschüchtert Gebrauch zu machen, und die Chance eröffnet, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen“. Dies gelte „nicht zuletzt in Blick auf das Ziel der Wiedereingliederung von Straftätern“.

Und die Pressefreiheit?

Was aber ist mit der Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG? Die tritt im vorliegenden Fall hinter das allgemeine Persönlichkeitsrecht zurück, ohne dass damit dem Beschwerdeführer grundsätzlich die alleinige Entscheidungs- und Verfügungsmöglichkeit überlassen wird. Der durch Art. 2 grundrechtlich geschützten Person wird also keine derart weitreichende Herrschaft über die angebotenen Informationen zugesprochen, dass sie sich gewissermaßen aussuchen könnte, wie über sie berichtet und was über sie im Netz gefunden wird.

Das BVerfG stellt klar, dass eine Person keinen Anspruch erheben kann, „alle personenbezogenen Informationen, die im Rahmen von Kommunikationsprozessen ausgetauscht wurden, aus dem Internet entfernen zu lassen“. Insbesondere gebe es „kein Recht, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung und allein eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten“. Welche Informationen als „interessant, bewundernswert, anstößig oder verwerflich erinnert werden“, so das BVerfG, unterliege „insoweit nicht der einseitigen Verfügung des Betroffenen“. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei „kein Rechtstitel gegen ein Erinnern in historischer Verantwortung“.

Vergessen – aber nicht alles

Das ist eine wichtige Bemerkung, die gerade auch mit Blick auf die politischen Verbrechen in zwei deutschen Diktaturen große Relevanz hat. Dennoch stärkt das BVerfG die Wiedereingliederung von Straftätern durch die Begrenzung der Pressefreiheit zugunsten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die Möglichkeit des Vergessens, der wiederum im öffentlichen Interesse eine klare Grenze gesetzt wird.

Der Beitrag stammt von unserem freien Autor Josef Bordat. Er ist Teil unserer Reihe “Berichte aus der Parallelwelt”. Dort werfen Autoren aus anderen Fachbereichen einen Blick auf die Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis. Die Beiträge betrachten, anders als unsere sonstigen Fachbeiträge Begebenheiten und Rechtsfälle daher auch nicht juristisch, sondern aus einem völlig anderen Blickwinkel. Aus welchem, das soll der Beurteilung der Leser überlassen bleiben. Interessant wird es, wie wir meinen, allemal.

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