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Anfangsverdacht prüfen – vollkommen überbewertet!

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Der von mir sehr geschätzte Strafverteidiger Rainer Pohlen berichtet im strafblog über einen interessanten Fall einer vermeintlich strafbaren Urheberrechtsverletzung:

Ein psychiatrischer Sachverständiger hat in einem Strafverfahren ein Zweitgutachten erstellt. Der Verteidiger (nicht RA Pohlen) hat das Gutachten dem Erstgutachter zur Prüfung vorgelegt. Der Zweitgutachter hat daraufhin Strafanzeige gegen den Verteidiger erstattet. Er vertritt die Ansicht, der Verteidiger habe in strafrechtlich relevanter Weise gegen das Urheberrecht verstoßen. Die Staatsanwaltschaft scheint dieser Ansicht zu folgen – ansonsten ist nicht erklärlich, weshalb der Erstgutachter eine Ladung zu einer polizeilichen Zeugenvernehmung erhalten hat.

Wer hat den Anfangsverdacht geprüft?

Bevor man zu einem strafrechtlich relevanten Verhalten kommt ist erstmal die zivilrechtliche Seite des Falls zu prüfen.

Ist das Gutachten überhaupt urheberrechtlich geschützt?

Hier beginnen die Fragen, die auch urheberrechtlich versierte Juristen nur mit viel wenn und aber beantworten können:

Zunächst ist zu klären, um welche urheberrechtliche Werksart es sich bei dem Gutachten handeln könnte. In Frage kommen Sprachwerke oder Werke wissenschaftlicher Art.

Die Grundvoraussetzungen für ein Sprachwerk liegen insoweit vor, als ein Gutachten aus einer Vielzahl von Worten besteht. Aus dem Gutachten wird jedoch nur dann ein Werk, wenn es eine persönlich geistige Schöpfung beinhaltet. Diese kann zum einen in der Darstellungsform, zum anderen im Inhalt zu finden sein. Der Inhalt wiederum ist nur schutzfähig, wenn er besonders phantasievoll ist. Ich hoffe, dass dies auf den Inhalt des Sachverständigengutachtens nicht zutrifft. Sofern –was von einem Gutachten zu erwarten ist- es sich um eine Darstellung der Realität und eine wissenschaftliche Beurteilung der Realität handelt ist ein solcher Inhalt per se nicht phantasievoll und folgerichtig nicht urheberrechtlich geschützt.

Es verbleibt für den Schutz als Sprachwerk nur die besondere Darstellungsform, durch die eine persönlich geistige Schöpfung begründet werden könnte. Aber auch hier muss dem Gutachter eine Absage erteilt werden – sofern er seinen Job ordentlich gemacht hat. Die Darstellungsform müsste nämlich eigentümlich, von schöpferischer Fantasie und Gestaltungskraft geprägt sein. Zugunsten des Gutachters gehe ich an dieser Stelle davon aus, dass seine Ausführungen von einem sachlichen und wissenschaftlichen Stil geprägt und zudem schematisch gegliedert sind.

Wenn kein Sprachwerk vorliegt, dann vielleicht ein wissenschaftliches Schriftwerk?

Auch hier wird es eng. Das KG Berlin hat in einer Entscheidung vom 11.05.2011 (AZ 24 U 28/11) ausgeführt, dass der Werkscharakter wissenschaftlicher Ausführungen

„in erster Linie in der Form und Art der Sammlung, Einteilung und Anordnung des dargebotenen Stoffs und nicht ohne Weiteres auch (…) in der Gedankenformung und –führung des dargebotenen Inhalts“ (zu finden ist). Die Frage, ob ein Schriftwerk einen hinreichenden schöpferischen Eigentümlichkeitsgrad besitzt, bemisst sich dabei nach dem geistig-schöpferischen Gesamteindruck der konkreten Gestaltung, und zwar im Gesamtvergleich gegenüber vorbestehenden Gestaltungen. Lassen sich nach Maßgabe des Gesamtvergleichs mit dem Vorbekannten schöpferische Eigenheiten feststellen, so sind diese der durchschnittlichen Gestaltertätigkeit gegenüberzustellen. Die Urheberrechtsschutzfähigkeit erfordert ein deutliches Überragen des Alltäglichen“ (…) Unter dem Aspekt der Form und Art der Sammlung, der Einteilung und Anordnung des dargebotenen Stoffs liegt die erforderlich Schöpfungshöhe bei Schriftwerken wissenschaftlicher oder technischer Art vor, wenn das Material unter individuellen Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien ausgewählt, angeordnet und in das Einzel- und Gesamtgeschehen eingeordnet wird; sie fehlt indes, wenn Aufbau und Einordnung aus Sachgründen zwingend geboten, insbesondere durch die Gesetze der Zweckmäßigkeit vorgegeben sind und keinen Spielraum für eine individuelle Gestaltung lassen (…) Ob ein wissenschaftlicher oder technischer Text unter dem Blickwinkel der Gedankenformung und -führung den nötigen geistig-schöpferischen Gehalt hat, beurteilt sich danach, ob sich der betreffende Text durch eine sprachliche Gestaltungskunst auszeichnet, die eine tiefe Durchdringung des Stoffes und eine souveräne Beherrschung der Sprach- und Stilmittel erkennen lässt, und ob es – im Falle der Komplexität des Darzustellenden – dem Verfasser gelingt, eine einfache und leicht verständliche Darstellung zu liefern“

Oh nein! Ich wollte doch nur schnell einen Anfangsverdacht prüfen!

Das Kammergericht kommt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die erforderliche Schöpfungshöhe nicht erreicht ist und das gegenständliche Gutachten nicht urheberrechtlich geschützt ist.

Und bist du nicht willig, so brauch´ ich Gewalt.

Da die weiteren rechtlichen Fragen jedoch so interessant sind möchte ich dem empörten Zweitgutachter einen besonders souveränen Umgang mit Sprach- und Stilmitteln unterstellen. Stellen wir uns einfach vor, er sei nicht nur ein Meister seines Fachs sondern auch ein Meister der Worte, der Grammatik, der Formulierungen und sein Gutachten habe tatsächlich urheberrechtlichen Werkscharakter.

Jetzt stellt sich die Frage: Welche urheberrechtlich relevante Handlung liegt vor?

Kollege Pohlen berichtet, der Verteidiger habe das Gutachten an den Erstgutachter „weitergereicht“.

Hier wird es nochmal richtig interessant!

Strafrechtlich relevant sind die unberechtigte Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Wiedergabe des Werkes (§ 106 UrhG). Von „Weiterreichen“ steht da nichts.

Nein, so einfach machen wir es uns nicht!

Leider besteht die Möglichkeit, dass das Gutachten vervielfältigt wurde und ein Vervielfältigungsstück an den Erstgutachter gegeben wurde. Es schließt sich die Frage an, ob der Verteidiger das Recht zur Vervielfältigung hatte. Desweiteren könnte man bei sehr kritischer Betrachtung auf die Idee kommen, dass das Weiterreichen an den Erstgutachter eine Verbreitung i.S.d. § 17 UrhG darstellt. Es kommen also zwei mögliche Nutzungshandlungen in Betracht.

Wie darf das Gutachten verwendet werden?

Inzidente Vertragsauslegung – gleich ist er fertig, der Anfangsverdacht!

Vor Erstellung des Gutachtens wird der Auftraggeber mit dem Gutachter geklärt haben, für welchen Zweck das Gutachten erstellt werden soll. Ich nehme an, dass vorliegend vereinbart war, dass das Gutachten in einem gerichtlichen Verfahren verwendet werden soll, an dem der Begutachtete beteiligt ist.

Sofern keine explizite Vereinbarung über den Umfang der Nutzungsrechte getroffen wurde, wird dieser unter Zuhilfenahme der Zweckübertragungslehre zu bestimmen sein. Hiernach räumt der Urheber die Nutzungsrechte im Zweifel nur in dem Umfang ein, den der Vertragszweck unbedingt erfordert.

Jetzt stellen sich die Fragen: Erfordert es der Vertragszweck, dem Erstgutachter das Gutachten überhaupt zu geben und/oder dem Erstgutachter ein Vervielfältigungsstück zur Verfügung zu stellen? Der gesunde Menschenverstand sagt: Ja klar! Das Gutachten muss doch allen Beteiligten zur Verfügung gestellt werden können, ggf. auch anderen Gutachtern!

Das verschrobene Juristenhirn kann jedoch zugunsten des Zweitgutachters und des sehnsüchtig herbeigesehnten Anfangsverdachts auch anders denken: Der Zweitgutachter wird mit einer Prüfung seines Gutachtens durch den Erstgutachter sicherlich nicht einverstanden sein. Er hat sein Gutachten erstellt, damit es im Verfahren verwendet wird – allerdings nicht, um die Qualität des Gutachtens durch den Erstgutachter prüfen zu lassen. (im Ergebnis ebenso: OLG Hamburg, Urteil vom 2.4.2008 – 5 U 242/07). Über diesen Punkt wird man trefflich streiten können. Wer gerne einen Anfangsverdacht haben möchte kann ihn hier konstruieren finden!

Da ist er, der Anfangsverdacht!

Wer denkt, damit sei die Prüfung am Ende hat sich getäuscht. Jetzt ist die Schranke des § 45 UrhG zu prüfen. Nach dieser Vorschrift ist es zulässig, einzelne Vervielfältigungsstücke von Werken zur Verwendung in Verfahren vor einem Gericht herzustellen und zu verbreiten. Die Herstellung darf jeder Verfahrensbeteiligte vornehmen.

Wie, noch weiter prüfen? Aber dann ist der Anfangsverdacht doch wieder weg?!

Spätestens an diesem Punkt kommt man zu dem Ergebnis, dass das Handeln des Verteidigers zivilrechtlich und damit auch strafrechtlich nicht zu beanstanden ist.

Egal, jetzt wird ermittelt!

Ich stelle mir jedenfalls die Frage, ob die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt ausreichend rechtlich geprüft hat. Ich habe Zweifel. (ro)

Bild: © Marco2811 – Fotolia.com

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